Handlungs- und Überlebungsräume jüdischer Kinder im Holocaust in der NS-besetzten Belarus – PD Dr. Yuliya von Saal (Institut für Zeitgeschichte München–Berlin)
„The Holocaust and its Contexts“: ZfHS-LMU-Kolloquium
03.02.2026 um 18:15 Uhr
Beginn: 18:00 Uhr c. t., Raum: K 201 (LMU-Raumfinder)
Yuliya von Saal ist Osteuropahistorikerin am Institut für Zeitgeschichte in München und hat sowohl die NS-Praxis gegenüber sowjetischen Kindern und Jugendlichen als auch Erfahrungen und Handlungsräume der Heranwachsenden unter deutscher Besatzung erforscht. Sie hat mehrere Arbeiten zu diesem Thema publiziert. Ihre Monografie „Kriegskindheiten im besetzten Belarus (1941–1944): Erfahrungen, Erinnerungen, Folgen” erscheint demnächst im Böhlau-Verlag.
Eine Kooperation des Zentrums für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte München–Berlin und des Lehrstuhls für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte.
Anmeldung
Eine Anmeldung ist bis zum 02.02.2026 per E-Mail erforderlich: zfhs@ifz-muenchen.de
Beschreibung
Die Erfahrungen der Jüdinnen und Juden in der besetzten Sowjetunion ähnelten denen der Juden in anderen Teilen des von den Nazis beherrschten Europas, da sie ebenfalls physisch vernichtet wurden. Was den Völkermord in diesem Teil Europas jedoch von anderen unterschied, war seine rasche Durchführung vor den Augen der lokalen Bevölkerung. Anders als in anderen Teilen Westeuropas wurden Jüdinnen und Juden nicht in Konzentrations- oder Vernichtungslager deportiert, sondern in den Ghettos oder in der Nähe ihrer Wohnorte erschossen. In Belarus, das sich fast drei Jahre lang unter deutscher Besatzung befand, hat die gesamte jüdische Bevölkerung – nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 550.000 und 700.000 – ihr Leben verloren. Kinder stellten aus Sicht der Besatzer keinen Wert an sich dar und wurden bereits ab Spätsommer 1941 systematisch ermordet. Und dennoch waren es oft nicht die Erwachsenen, sondern die Kinder, die der Ermordung – wie durch ein Wunder – manchmal mehrfach entkamen, die es immer wieder schafften, sich tot zu stellen, sich zu verstecken, wochenlang allein ohne Essen im Wald auszuharren, unbemerkbar zu bleiben, um zu überleben. Kinder, die in keinem Arbeitsverhältnis standen, brauchten keine Personalpapiere und konnten sich freier bewegen als Erwachsene, da sie an vielen Orten die gelbe Markierung nicht zu tragen brauchten. Darüber hinaus reagierten sie anders als ihre Eltern auf Gefahren. Kinder und Jugendliche handelten in kritischen Situationen nicht nur schnell, sondern auch intuitiv. So paradox es klingen mag, die agency der Kinder kam umso mehr zutage, je entgrenzter die Gewalträume waren. Um zu überleben, entwickelten Kinder unglaubliche Aktionskräfte und Eigenständigkeiten, wozu auch das schweigsame Ertragen von Hunger, die Unterdrückung von Emotionen, die Übernahme von Verantwortung, Rollenumkehr innerhalb der Familien oder bewusste Familientrennungen zählten. Gerade die zum Tode verurteilten jüdischen Kinder erwiesen sich als weniger passiv als bisher von der Forschung angenommen. Welche Erfahrungen jüdische Kinder in der besetzten Sowjetunion machten, inwiefern sie sich von denen der nicht jüdischen Kinder unterschieden und welche Überlebensstrategien sie entwickelten, wird im Fokus des Vortrages von Yuliya von Saal stehen.